von Eike Martin
Tiere mit Makeln, wie hohes Alter, Krankheit, Behinderung oder Verhaltensproblem finden sehr schwer eine Familie und stehen daher auch bei den vielen Tierschutzorganisationen nicht im Vordergrund der Vermittlungsaktivitäten. Sie fristen häufig jahrelang ein Schattendasein in den Auffangstationen und schaffen oft nicht einmal den Sprung auf ein Foto oder gar eine Vermittlungsseite – sie haben den Stempel: Chancenlos!
Für mein Verständnis sind es insbesondere diese Tiere, die unsere besondere Aufmerksamkeit, den Schutz und auch die Pflege benötigen und diese im Tierheimbetrieb nicht gewährleistet ist. Joseph war so ein Chancenloser.
Als wir uns im Jahre 2009 nach dem Tod unseres alten Rüden auf die Suche nach einem älteren Begleiter für unsere Cherry machten, fanden wir Picasso, damals neun Jahre alt, wovon er acht Jahre in einem Tierheim auf Zypern verbracht hatte. Seine Vorstellung auf der Homepage des Vereins war damals der erste Versuch auch einem Chancenlosen ein Sprungbrett zu bieten und für uns der erste Kontakt mit dem Zypernhunde e.V.
Zu dieser Zeit musste Joseph ein wenige Monate alter Welpe gewesen sein. Auch wenn nicht bekannt ist, wie er seine ersten Jahre verbracht hat, ließ sich aus seinem späteren Verhalten schließen, dass er wahrscheinlich isoliert von der Außenwelt und anderen Hunden in einem kleinen Zwinger (was nicht ungewöhnlich für Jagdhundezuchten auf Zypern ist) aufgewachsen ist. Doch dazu später mehr.
Mit Picasso trat der erste Angsthund in unser Leben. Ein Hund der aus seiner gewohnten Tierheimwelt „herausgerissen“ wurde und nun erstmalig grüne Wiesen unter seinen Pfoten fühlte, der wahrscheinlich niemals in einem Haus gelebt oder den Tagesablauf in einer Familie kennengelernt hatte. Picasso entdeckte seine neue Welt mit Vorsicht und ein wenig Neugier. Wiederkehrende Routinen und vor allem unsere souveräne Cherry gaben ihm Sicherheit, so dass er sich innerhalb von Monaten zu einem tollen Begleiter entwickelte. Seine Vorsicht gegenüber fremden Menschen behielt er noch lange und ging diesen lieber aus dem Weg, doch darüber hinaus war er ein toller Begleiter und eine Seele von Hund.
Seither behielt ich Kontakt zu der Organisation und behielt die „Veränderungen“ auf der Homepage im Blick. Im November 2011 entdeckte ich Josephs traurigen Blick auf der Homepage. Er war nicht zu vermitteln, denn keiner konnte sich vorstellen, dass ein so schwer traumatisierter Hund wie Joseph überhaupt jemals in einer Familie leben könnte. Er wurde als Patenhund vorgestellt, der im Januar 2011 ausgehungert und völlig verängstigt im Tierheim aufgetaucht war. Erst nach ein paar Tagen konnte er eingefangen und in einen Zwinger gebracht werden. Er erhielt den Namen Joseph und saß oder kauerte von da an in ein und derselben Ecke seines Zwingers. Der offensichtlich schwer traumatisierte Joseph hatte vor wirklich allem Angst – vor Geräuschen, vor Hunden, vor Menschen und sogar vor seinem eigenen Schatten. Besonders schlimm war seine Angst vor Händen. Joseph ließ sich nicht anfassen und kam auch nie aus seiner Ecke heraus. Irgendwann hatte der arme Kerl irgendwo seinen Lebensmut verloren, ohne dass sein Leben jemals richtig begonnen hätte.
Wir übernahmen die Patenschaft und gaben Joseph ein Versprechen: Wenn wir einen Platz in unserer Familie frei haben würden und er wäre bereit, dann ist er herzlich willkommen.
Viel schneller als gedacht kam dieser Zeitpunkt, denn schon Anfang April 2012 ging unsere Cherry über den Regenbogen. Wir schrieben Joseph „unseren Adoptionsantrag“. Was wir zu dem Zeitpunkt nicht wussten war, dass bereits seit Februar 2012 ein ehrenamtliches Trainerteam seine Arbeit in diesem Tierheim aufgenommen und Joseph schon erste Therapie-Stunden mit „seiner Tante Carole“ begonnen hatte.
So wurde Joseph vom aussichtslosen Fall zum „Special Boy“, der nun Briefe und Pakete aus Deutschland erhielt und von nun an nicht mehr alleine war auf dieser für ihn bedrohlich erscheinenden Welt. Carole schrieb am 28. April 2012 in einem Brief an uns folgende Zeilen: „Heute ist er das allererste Mal ganz aus seiner Ecke herausgekommen. Er ist über meine Beine gestiegen, um an die Leckerlis auf der anderen Seite heran zu kommen. Er ist sehr handscheu. Jede leichte, plötzliche Bewegung meiner Hände kann dazu führen, dass er sich in seine sichere Ecke zurückstürzt.“
Das mag für manche wenig spektakulär klingen, doch war dieser Tag für den traumatisierten Joseph wohl der erste sichtbare Schritt in seine Zukunft, in sein zweites Leben. Carole und ihr Trainerteam auf Zypern gaben Joseph die Zeit, die er brauchte, um ihn aus seinem „Kaspar-Hauser-Dasein“ heraus zu holen. Carole schrieb uns: „Es wird ein langer Weg sein und ich weiß, wenn er bei Euch ist, wird er sich noch schneller verbessern. Er ist ein ganz besonderer Junge, ich liebe ihn sehr. Vielen Dank für das Angebot einem so verwirrten kleinen Hund ein schönes Zuhause und ein Leben zu bieten.“
Das Training von Joseph war gekennzeichnet von kleinen, unmerklichen Erfolgen, Rückzügen und Panikattacken. Was dem zarten und zerbrechlich wirkenden Hund widerfahren war, weiß niemand. Dazu gibt es nur Vermutungen. „Ich denke, er könnte die meiste Zeit seines Lebens in einem Käfig gehalten worden sein, weil er besonders in offenem Gelände so ängstlich ist. Sein Bedürfnis nach Ecken oder Wänden lässt vermuten, dass es das ist, was er kennt, und der einzige Platz, an dem er sich sicher fühlt“, lautete Carols Erklärung für Josephs Verhalten. „Die Zeit ist Josephs größter Heiler“, schrieb seine Trainerin in einem weiteren Brief. Und auch wenn seine angstbedingte, reduzierte Körpersprache es nicht vermuten ließ – Joseph schien dem Training tatsächlich entgegenzufiebern. Denn er kannte die Tage, an denen Carole ins Tierheim kam sehr genau und hielt interessiert nach ihr Ausschau.
Nach für uns endlos erscheinenden vier Monaten intensivem Trainings auf Zypern wagten Tante Carole und unser Joseph die Reise nach Hamburg, am 10. August 2012 holten wir beide am Flughafen ab. Caroles Anwesenheit erleichterte Joseph die ersten Tage bei uns. Der Abschied war schlimm – für beide. Carole weinte und Joseph zog sich trauernd zurück. Aber auch hier war die Zeit sein bester Freund und im Laufe der nächsten Monate machte er viele weitere, kleine Fortschritte. Dabei war ihm Picasso eine große Hilfe. Im Dezember 2012 adoptierten wir Bracken-Mix Fine, ebenfalls aus Zypern. Der unbedarfte Welpe bewirkte nicht nur, dass Joseph das Spielen erlernte, er lernte auch offener auf andere Hunde zuzugehen. Fine zog Joseph regelrecht mit in ihrer Entwicklung.
Mit zwei Schritten vor und auch wieder einem zurück kämpfte sich Joseph zurück ins Leben. Seine Panikattacken und die Angstschreie im Traum gehörten bald der Vergangenheit an. Nach zwölf Monaten im familiären Umfeld war Joseph, der einst als chancenlos galt, ein fast normaler Hund.
Doch schleichend veränderte sich sein Verhalten wieder. Zum Jahreswechsel 2013/2014 wurde er bei Feuerwerk wieder panisch auch Gewitter wurden mehr und mehr zum Problem. An einigen Tagen erschien er depressiv, lustlos, appetitlos und wochenlang fraß er kaum. Trotzdem wirkte er „schwammig“. Bald stand fest: Joseph leidet unter Schilddrüsenunterfunktion. Wir hatten große Hoffnung dass es ihm durch die Gabe von Schilddrüsenhormonen bald besser gehen würde und wir dort anknüpfen könnten, wo wir 2013 „aufgehört“ hatten.
Die Einstellung der Wohlfühldosis gestaltete sich langwierig. Ob auch die Fußball-Weltmeisterschaft in 2014 und die damit einhergehenden häufigen Feuerwerke oder sogar auch der Tod Picassos im Sommer desselben Jahres eine Rolle spielte wissen wir nicht. Es dauerte sehr lange, bis Joseph wieder „normales“ Verhalten zeigte und auch wieder begann weitere positive Entwicklungen zu zeigen. Bis heute unterliegt er großen Schwankungen in seiner Thyroxin Dosis, die wir inzwischen an seinem Verhalten erkennen und auch entsprechend situativ anpassen. Ein dauerhaftes stabiles Verhalten über Monate wie in 2013 haben wir seither nicht mehr erzielt. Er ist häufig sehr geräuschempfindlich, jedes Gewitter und auch Feuerwerk sind ein Angstauslöser, die ihn in seine von uns extra angefertigte schallgedämpfte Höhle treiben. Zumindest bleiben Panikattacken äußerst selten und die Höhlenstrategie hilft ihm über diese Phasen.
90 von 100 Tagen ist Joseph ein normaler Hund, er fordert sogar auch von anderen Menschen aufdringlich (manchmal mit Anspringen) seine Aufmerksamkeit in routinierten Situationen, wie der Begrüßung oder der Leckerli-Vergabe. Er lässt nicht mehr immer von aufdringlichen Hunden ohne Gegenwehr „Anrüpeln“ und manchmal begehrt er auch gegen Fines „Attacken“ (Fine hat mit der Pubertät die Führung unter den Hunden übernommen) auf. Doch aus heiterem Himmel schlägt es um. Er schreckt dann bei jedem Geräusch, zieht sich mehr zurück, seine Körperhaltung ist dann sehr gekrümmt verschlossen, er scheut den Blick in die Augen und zeigt keinerlei Freude in seinem Ausdruck, nicht einmal wenn er rennen kann. Es erscheint mir, als wenn er wie ein Autist in einer anderen Welt lebt an diesen Tagen.
Und so wird Joseph wohl immer ein Andershund bleiben, der mit den Jahren seine Familie kennen und lieben gelernt hat, doch den scheinbar seine Prägung in den ersten Lebensmonaten immer wieder einmal einholen.
Wir genießen und lieben unseren Special Boy – so wie er ist – und freuen uns jeden Tag, an dem Joseph freudig mit uns kommuniziert außerordentlich, dass so ein toller Hund unsere Familie bereichert.
Eike Martin & Crew
Josephs Lebensgeschichte habe ich in zwei Büchern veröffentlicht „Joseph, komm zurück ins Leben“ handelt von der Zeit auf Zypern. Während der langen Wartezeit auf Joseph haben wir unserem „Special Boy“ Briefe geschrieben. Die Briefe an Joseph wechseln sich ab mit den Briefen von Carole Husein an uns und ermöglichen dem Leser einen detaillierten Einblick in die besondere Trainingszeit im Tierheim. Im zweiten Buch mit dem Titel „ Joseph – zurück im Leben“ beschreib ich das erste Jahr von Joseph in unserer Familie mit allen Höhen und Tiefen. Beide Bücher sind über Amazon oder direkt bei mir (www.pelznasenshop.de) erhältlich. Mit dem Verkaufserlös unterstützen wir seit 2013 andere „Chancenlose“.